Filmkritiken

DIE BESTE ANTIHELDIN DER KINOSAISON

von

Susanne Lintl
Susanne Lintl

08/07/2013, 10:00 PM

Was hast du da unter dem Hemd?“, fragt Gloria erstaunt, als sie mit ihrem Old Boy den Sprung ins Bett wagt. Der reißt sich, statt zu antworten, mit einem lauten „Ratsch!“ den miederartigen Bauchgurt vom Leib. Gloria schließt die Augen und atmet tief durch: Erotik ist etwas anderes. Und das Gurt-Desaster ist, wie sich bald herausstellt, nicht der einzige Makel dieses Mannes mit der wegoperierten Fettschürze.

Selten hatte eine Filmheldin so einen hohen Identfikationswert für den gemeinen Kinogeher wie diese kleine, unscheinbare, dick bebrillte 58-Jährige, die der chilenische Regisseur Sebastián Lelio in den Mittelpunkt seines kurzweiligen Films über das Leben ganz normaler Stadtneurotiker in Chile stellt.

Gloria ist hart im Nehmen und hat trotz allem Freude am Leben: trotz ihrer selbstverliebten Kinder; trotz des lärmenden Wohnungsnachbarn mit der streunenden Katze; trotz ihres weinerlichen Ex-Mannes; trotz des miesen Jobs und des geringen Gehalts.

Voll Lebensfreude stürzt sie sich mit adrettem Kleid und dezentem Make-up in die Nächte Santiago de Chiles und flirtet und tanzt, was das Zeug hält. Als ihr der eingangs erwähnte Rodolfo den Hof macht, glaubt sie, endlich den Prinzen unter den Fröschen gefunden zu haben. Aber leider: Rodolfo ist ein notorisches Weichei, das sich nicht von seiner Ex-Frau und den längst erwachsenen Töchtern lösen kann. Wenn das Telefon klingelt, ist Schluss mit romantisch, dann rennt er heim zur Ex. Dass die Beziehung zu so einem nicht gutgehen kann, ist – zumindest jeder Frau – nach ein paar Minuten klar.

Die bei uns bislang unbekannte Chilenin Paulina Garcia, die für ihre Darstellung der Gloria bei der heurigen Berlinale den Silbernen Bären als beste Schauspielerin gewann, verschmilzt mit ihrer Rolle. Sie ist Gloria, sie muss sich nicht verstellen: Sie habe sich so sehr in die Welt ihrer Filmheldin vertieft, erklärte Kritiker- und Publikumsliebling Garcia in Berlin, dass sie am Ende der Dreharbeiten den Eindruck hatte, als würde sie „aus einem tiefen Traum aufwachen“. Sicher singt sie auch lauthals mit, wenn aus dem Autoradio ihre Lieblingssongs tönen.

Nichts Menschliches ist dieser Frau, die jede Ohrfeige, die das Leben ihr versetzt, mit Würde trägt, fremd: Der Nachbar kifft, na und? Als er im Drogenrausch ein Haschpäckchen vor Glorias Haustür verliert, schnappt sie sich dieses und dreht sich genüsslich ihre Joints. Wozu aufregen über Dinge, die es nicht wert sind.

Lelios Low-Budget-Film ist auch ein Statement gegen den Jugendwahn: Die Welt kapriziere sich zu sehr auf junge und schöne Leute. Ältere werden – vor allem in sexuellen Belangen – gar nicht wahrgenommen, was ihn schon lange Zeit nerve.

Wie soll so ein Film enden? – Natürlich mit einer köstlich-komischen Racheaktion von Gloria an Bauchgurt-Rodolfo. Und mit Umberto Tozzis 70er-Jahre-Ohrwurm „Gloria“.

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Wie nebenbei spiegeln sich in dem Streifzug mit Gloria auch Gegensätze, Brüche, Offenheit und Optimismus des heutigen Santiago de Chile wider.

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