"Der Brutalist"-Filmkritik: Bauen am amerikanischen Traum(a)

Szene aus "Der Brutalist"
Selten zuvor hat uns ein Filmtitel derartig in die Irre geführt. Was nach dem neuesten Action-Kracher von Jason Statham klingt, ist in Wirklichkeit ein dreieinhalbstündiges Epos über einen ungarischen Architekten namens László Toth (Adrien Brody). Den Mann hat es freilich nie gegeben, doch sein Leben steht stellvertretend für viele Emigrantenschicksale nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA.

Szene aus "Der Brutalist"
Corbets Filmwunder in VistaVision
Mit Brutalismus ist ein Baustil gemeint, der auf Beton und karge, wuchtige Formen setzt. Vielleicht bürgert sich in der Filmwelt auch einmal der Begriff Corbetismus ein, als Bezeichnung für wuchtige Dramen, die beste Oscarchancen haben. Brady Corbet hat mit gerade mal Mitte 30 hier jedenfalls ein Filmmonument erreichtet, das seinesgleichen sucht – und dafür noch dazu bloß ein lächerlich geringes Budget von knapp acht Millionen Dollar aufgewendet. Für die besonders intensive Bildwirkung benutzte er das in den 50er Jahren beliebte Breitwandverfahren VistaVision.

Szene aus "Der Brutalist"
Geniale Eröffnungsszene
Gleich die große Eröffnungsszene macht überdeutlich, welche Qualitäten dieses Werk besitzt: Toth drängt sich durch Menschenmassen im Bauch des Auswandererschiffs und wir als Zuschauer fühlen uns wohl ebenso desorientiert wie er, bevor er dann plötzlich an Deck gelangt und zur Freiheitsstatue aufblickt, die wir durch seine Augen in ungewohnter Perspektive erleben. Hier ist schon alles enthalten: Einsamkeit, Angst, Verstörung, Wut und zugleich Jubel, Euphorie und Hoffnung. Begleitet wird diese Sequenz durch eine "Overture" von Daniel Blumberg, die unsere Ohren mit Vorfreude auf den weiteren Soundtrack erfüllt.

Szene aus "Der Brutalist"
Harter Weg zum Neubeginn
Lásló wird von einem Verwandten scheinbar mit offenen Armen aufgenommen, doch das Glück währt nicht lange. Nach der Flucht vor Nazis und Kommunisten muss sich der einst renommierte Architekt nun als Hilfsarbeiter mit Kohleschaufeln durchschlagen. Dann scheint sich der amerikanische Traum doch noch zu verwirklichen, als der steinreiche Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) Toths Könnerschaft entdeckt. Während ihre erste Begegnung unter keinem guten Stern gestanden ist, bietet ihm nun Van Buren die Chance auf ein ambitioniertes Projekt.
Auch an diesen vermeintlichen Erfolg reiht sich eine Kette von Unglücksfällen und Demütigungen, was immer wieder zu starken Verzögerungen im Bauvorhaben führt. Vor allem, wenn Alkohol im Spiel ist, zeigen die Angehörigen der Oberschicht ihr wahres Gesicht und lassen den Emigranten ihre Überlegenheit und Verachtung spüren oder nehmen sich mit Gewalt, was sie wollen.

Szene aus "Der Brutalist"
Musikalischer Pausenfüller vor dem Besuch im Marmorland
Wegen der epischen Breite seines Films hat sich Corbet zur Halbzeit für eine Pause entschieden: Diese "Intermission" dauert genau 15 Minuten, wie durch einen ablaufenden Countdown verdeutlicht wird. Das Sitzenbleiben lohnt sich aber trotzdem, denn in dieser Zeit gibt es ebenfalls einen eigenen Titel des phänomenalen Soundtracks zu hören.
Zu einem der Höhepunkte dieses Werk zählt dann der Besuch in den Marmorsteinbrüchen von Carrara, wo ein einsiedlerischer Arbeiter die Führung übernimmt. Die wuchtige Szenerie zieht jeden in ihren Bann und bei einem Tanzfest im Stollen wird das Leben in rauschhafter Freude ausgekostet, doch zugleich ergibt sich zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren eine Schlüsselszene mit entscheidenden Auswirkungen auf die weitere Handlung.

Szene aus "Der Brutalist"
Brody und Jones als Traumpaar
Adrien Brody in der Hauptrolle grandios zu nennen, wäre noch eine Untertreibung. Sein Auftritt stellt im Vergleich zu "Der Pianist" sogar eine Steigerung dar – selten zuvor waren jemandem die Lebensspuren des Leidens so deutlich ins Gesicht geschrieben wie dieser Figur des László Toth. Felicity Jones ist ihm als Ehefrau Erzsébet in jeder Hinsicht eine gleichwertige Partnerin, kommt aber leider erst ab der zweiten Hälfte ins Spiel. Sie und Brody haben noch dazu die Aufgabe, den ganzen Film über ein Englisch mit ungarischem Akzent durchzuhalten, was sie mit völliger Natürlichkeit meistern.

Szene aus "Der Brutalist"
Schlussüberraschung mit Zeitsprung
Vor allem das Ende wird uns überraschen: Es gibt nicht nur einen radikalen Schauplatzwechsel, sondern auch ein großer Zeitsprung findet statt. Dieser abrupte Wechsel wird genial durch den Soundtrack ausgedrückt, der das Hauptthema in einer unerwarteten Transformation wieder aufnimmt. Nun kommen Aspekte zur Sprache, die bisher verborgen geblieben sind, denn durch diese Abschlussszene werden uns die Augen geöffnet über Toths eigentliche Motivation - es ist plötzlich klar, warum ihm gerade dieses Projekt so viel bedeutet hat, und wir sehen den Film sozusagen mit neuen Augen. Das verleiht „The Brutalist“ einen ganz und gar nicht melancholischen Ausklang, sondern bietet den würdigen Abschluss eines fiktiven Lebenswerks.
Brady Corbet hat also ein vielschichtiges Kunstwerk erschaffen, in dem er anhand eines erfundenen Emigrantenschicksals den Glanz und die Schattenseiten des American Dreams darstellt. Trotz dunkler Thematik ist hier alles perfekt: Adrien Brody und Felicity Jones sind niemals besser gewesen, die Kamerabilder strahlen oft eine geradezu überirdische Schönheit aus, und der Score entwickelt einen regerecht hypnotischen Sog. Ein Film, der es verdient hätte, in jeder einzelnen Kategorie der zehn Nominierungen einen Oscar zu erhalten.
5 von 5 Marmorblöcken aus Carrara
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