"Squid Game"-Erfolgsfaktor: Was steckt psychologisch dahinter?
Ein Kinderspiel ist das ganz sicher nicht, obwohl es zunächst vielleicht danach aussieht. Da treten hunderte Menschen zu Spielen an, bei denen, Taktik, Kraft und Geschicklichkeit gefragt sind, greifen zu Murmeln und Kreiseln, stechen Figuren aus oder ziehen am Tau – und die Verlierer werden gnadenlos umgebracht. bis nur noch einer am Leben ist, der als Preisgeld eine enorme Summe kassiert. Willkommen in der Welt des Serienhits "Squid Game" (dessen Titel sich ebenfalls auf ein koreanisches Kinderspiel namens "Tintenfisch" bezieht)!
Mit "Squid Game"-Staffel 3 wird in diesem Juni eine der erfolgreichsten Netflix-Serien aller Zeiten ihr Finale erreichen. Schließlich brachte es die erste Staffel 2021 vier Wochen nach ihrer Veröffentlichung bereits auf 142 Millionen Abrufe, während Staffel 2 nach der ersten Woche rund 500 Millionen Zuschauerstunden verzeichnete. Wie schaffte es die südkoreanische Produktion, ein Millionenpublikum anzusprechen und was ist an ihrer Thematik so faszinierend? Immerhin erfreut sich auch eine amerikanisch Variante wie die "Tribute von Panem"-Filmreihe mit den Hungerspielen großer Beliebtheit.
Hier soll psychologisch erklärt werden, was uns mitfiebern lässt, wenn ein paar Menschen ums Überleben kämpfen.
Psychologische Erklärung
"Squid Game" ködert sozial Benachteiligte und hoch Verschuldete mit dem Traum vom großen Gewinn – und sehr schnell wird klar: man muss nur skrupellos genug sein und die Bereitschaft mitbringen, über Leichen zu gehen. Bestimmte psychologische Mechanismen lassen sich hier gut studieren und wir erleben mit, wie leicht Menschen durch manipulative Taktiken und Kontrolle durch Autoritätspersonen negativ beeinflusst werden können.
Besonders perfide ist das Szenario, denn etwas auf den ersten Blick so Unschuldiges wie Kinderspiele steht hier im Dienst des unerbittlichen Konkurrenzdrucks und gipfelt in der gegenseitigen Auslöschung. Erwachsene verwandeln sich wieder in Kinder und erfahren eine Hilflosigkeit, auf die sie mit Gewalt reagieren. Das macht die Serie geradezu teuflisch effektiv.
Übrigens ergeben sich sofort wichtige Unterschiede zu den "Hungerspielen" in der Panem-Reihe: Dort geht es nicht um Geld und es werden statt Kinderspielen eine Art moderner Gladiatorenwettkämpfe ausgetragen, während die Teilnehmer hingegen tatsächlich im Kinder- oder Teenageralter sind. Darum macht es Sinn, sich in diesem Artikel nur auf "Squid Game" und dessen psychologische Konsequenzen zu konzentrieren.
Von Identifizierung, Gruppendynamik und dem Prinzip Hoffnung
In der amerikanisch Online-Frauenzeitschrift "Bustle" erklärt Psychologe Dr. Eric Bender, dass Kinderspiele an und für sich bereits grausame Züge aufweisen und dadurch oft suggerieren: Du warst nicht gut genug, wenn du verlierst. In "Squid Game" werde der Spielpatz dann zum Synonym für die brutale Geschäftswelt und Kapitalismus-Kritik ist angesagt. Man bildet zwar Teams, doch es ist jederzeit möglich, den eigenen Mitspielern in den Rücken zu fallen, während ein paar Reiche der herrschenden Klasse belustigt zusehen und Wetten auf die Überlebenschance der Teilnehmer abschließen. Den Zuschauern fällt es dabei leichter, sich in die bedrängten Figuren hineinzuversetzen: "Leute können sich damit identifizieren, nicht Teil der herrschenden Klasse, sondern eher Underdogs oder Unterdrückte zu sein".
Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Praveen Kambam erklärt ergänzend dazu, man habe Mitleid und in gewisser Weise Verständnis für die Teilnehmenden. Ständig fragt man sich: Wie würde ich selbst in dieser Situation handeln? "Das ist beängstigend und aufregend zugleich, denn wir tendieren dazu, unsere moralischen Werte zu überschätzen und fatale Gruppendynamiken nicht ernst genug zu nehmen." So werden uns die Augen darüber geöffnet, wie rasch sich Menschen in Extremsituationen verändern können und ihre dunklen Seiten zu Tage treten. Gruppenentscheidungen stellen dann auch oft Kompromisse dar, die sich nicht immer als beste Optionen erweisen.
Medienpsychologin Dr. Pamela Rutledge fasst abschließend zusammen, dass hier zugleich das Prinzip Hoffnung eine wichtige Rolle spiele: Jeder Zuschauer hoffe, dass seine Lieblingscharaktere das Spiel unbeschadet überstehen und für ihren Einsatz belohnt werden; außerdem vertraue man darauf, dass die skrupellosen Drahtzieher schließlich von der Polizei zur Rechnung gezogen werden. Weil wir hier mithoffen, bestärkt uns das in der Aussicht, auch unsere eigenen Probleme lösen zu können. Schön, dass man aus dieser düsteren Thematik doch eine so positive Lehre ziehen kann.
Nachahmungseffekt und "Squid Game"-Spielshow
Die Identifizierung, von der vorhin die Rede war, kann aber auch zu weit getrieben werden. So stellten beispielsweise Kinder und Jugendliche einige der gezeigten Spiele nach und misshandelten die Verlierer durch Ohrfeigen, was dazu führte, dass in Deutschland oder Großbritannien Schulen vor der Serie sogar warnten. Als Reaktion auf derartige Meldungen betonte Regisseur Hwang Dong-hyuk, die Produktion sei nicht für Kinder gedacht, und Hauptdarsteller Lee Jung-Jae strich hervor, ihre Botschaft bestehe darin, "keine Gewalt anzuwenden, sondern Starke und Schwache sollen vielmehr harmonisch zusammenleben ".
Diese positive Sicht scheint aber nicht überall anzukommen und eine weitere Steigerungsstufe ist erreicht, sobald sich britische Gameshow-Produzenten den "Squid Game"-Erfolg zunutze machen. Mit "Squid Game: The Challenge" wurde ebenfalls auf Netflix realen Teilnehmern die Möglichkeit geboten, sich selbst ins gefährliche Geschehnis zu stürzen. Der Tod drohte ihnen selbstverständlich nicht - oder nur auf symbolische Weise, dafür lockte über zehn Episoden hinweg ein Gewinnsumme von 4,56 Millionen US-Dollar. Das erscheint als zynische Reaktion auf die Originalserie, die deren Botschaft geradezu auf den Kopf stellt. Überraschenderweise hat sich Serienschöpfer Dong-hyuk aber als Fürsprecher dieses Konzepts erwiesen, indem er abwiegelnd meinte: "Ich finde, wenn man die Dinge zu ernst nimmt, ist das nicht der beste Weg für die Unterhaltungsindustrie."
Im Dezember 2023 ging dann die letzte Folge der Spielshow über die Bühne. Einige der insgesamt 456 Teilnehmer und Teilnehmerinnen behaupteten, beim Dreh aufgrund schlechter Sicherheits-Standards Verletzungen erlitten zu haben - darunter Unterkühlungen und Nervenschäden. Die 55-Jährige Mai Whelan aus Virginia sicherte sich den Hauptgewinn, musste aber nach Abschluss der Dreharbeiten durch einen um etliche Monate zeitversetzten Ausstrahlungstermin fast ein Jahr auf die Auszahlung der Summe warten. Vielleicht war das alles auch reine Berechnung, um der Gewinnerin eine weitere psychologische Erfahrung zu ermöglichen: Das Verarbeiten eines Frustrationserlebnisses.