Regisseur Gregor Schmidinger: "Widerstand ist anfangs zu erwarten!"
Gregor Schmidinger
Der Pride Month ist in vollem Gange, Regenbogenfahnen bringen derzeit überall Farbe in den grauen Alltag – gut so, denn auch 2023 ist es wichtig, Solidarität zu gesellschaftlichen Minderheiten zu begründen beziehungsweise selbstbewusst zu sich selbst zu stehen und für Rechte zu kämpfen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Liest man sich diverse Kommentare in Social Media-Kanälen durch, ist es 2023 sogar so bitter nötig wie schon lange nicht mehr.
Die Regenbogenfahne am Fenster seiner Wohnung hat auch Gregor Schmidinger gehisst. Der 38-jährige Regisseur aus Linz hat sich in den vergangenen Jahren mit (Kurz-)Filmen einen Namen gemacht, die sich allesamt rund um das Thema Homosexualität drehen, aber unterschiedlicher nicht sein könnten:
In "The Boy Next Door" (2008) schließt ein Callboy Freundschaft mit einem kleinen Jungen, der Kurzfilm avancierte zum YouTube-Hit. "Homophobia" aus 2012 ist ebenfalls ein Kurzfilm und widmet sich feinfühlig dem inneren und äußeren Schwulenhass im österreichischen Bundesheer – und "Nevrland" (2019) ist ein radikaler Filmtrip, irgendwo zwischen Coming-of-Age-Drama und Psychothriller angesiedelt und handelt vom Prozess des sexuellen Erwachens und der persönlichen Selbstfindung als schockierende Reise, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie immer mehr verschwimmen.
Schmidinger lebt nicht nur offen homosexuell, sondern engagiert sich auch abseits seiner filmischen Werke für Gleichberechtigung und Inklusion – zum Beispiel im Rahmen des Podcasts "Warme Brüder", gemeinsam mit DJ Gerald van der Hint. Tipp: Am 8. August stellen die beiden den queeren Film "The Inspection" vor.
Wir baten Gregor Schmidinger zum Interview.
Du sorgst mit deinen Filmen nicht nur im "Pride Month" Juni für queere Sichtbarkeit, sondern das gesamte Jahr hinweg. Alle drei deiner Werke beschäftigen sich mit Queerness. Wieso eigentlich?
Gregor Schmidinger: Als Künstler:in sucht man sich stets Themen, die sehr nahe bei einem selbst sind und mit denen man sich identifizieren kann. Mein Schwulsein ist sicher nicht der wichtigste, aber trotzdem ein wichtiger Teil von mir. Und sicherlich jener Teil, der beim Heranwachsen nicht jenen Raum und jene Sichtbarkeit bekommen hat, die er verdient hätte. Kunst ist einfach eine tolle Art und Weise, um sich mit genau solchen Aspekten der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen und ihnen Raum zu geben.
Hattest du jemals Angst, als "schwuler Regisseur" abgestempelt zu werden? Als jemand, der ausschließlich auf dieses bestimmte Thema reduziert wird?
Nein, gar nicht. Solche Überlegungen wären auch sehr strategisch. Natürlich kam dann und wann mal dieser Gedanke, aber hätte ich ihn weiter verfolgt, wäre erneut die Scham vor meiner Homosexualität im Vordergrund gestanden, hätte mein Schwulsein verleugnet, wie es in meiner Jugend war.
Schmidinger am Set von "Nevrland"
Gegenfrage: Bekamst du bereits explizites Lob dafür, sich als Jungregisseur mit diesem "brisanten" Thema auseinanderzusetzen?
Bei "Homophobia", der 2012 herauskam, durchaus. Damals war die queere Medienlandschaft noch eine ganz andere. Queerness kam in Filmen und Serien viel weniger vor, weshalb ich mit dieser Thematik mehr aufgefallen bin. Bei "Nevrland" 2019 war das bereits anders, auch wenn es immer noch ein bisserl Thema war, weil es in der österreichischen Förderlandschaft nicht sehr viel queere Projekte gegeben hat.
Heutzutage ist Homosexualität alles andere als ein Tabuthema. Ich habe viel mehr das Gefühl, das "heiße Eisen" ist nun die Thematik rund um Transidentität, so ganz nach dem Motto: "Homosexualität haben wir mittlerweile abgehandelt und wir akzeptieren sie" – solange sie sich uns anpasst! –, deshalb nehmen wir uns nun Trans-Themen als Zielscheibe. Wenn man also 2023 von "mutigen Themen" sprechen möchte, ist das meiner Meinung nach eher Transidentität als Homosexualität.
Ist Homosexualität für Filme- und Serienmacher:innen mittlerweile langweilig geworden?
Wir haben einfach bereits sehr viel schwule und lesbische Geschichten gesehen, sowohl mit positiver als auch negativer Grundstimmung. Bei Transidentität fehlt diese Sichtbarkeit noch, wir kennen noch nicht alle Facetten dieses Themas.
Zusammenfassend: Wieso ist queere Sichtbarkeit nach wie vor wichtig, trotz allem gesellschaftlichen Fortschritts?
Ganz einfach: Weil Queerness Teil des Lebens ist. Grob geschätzt sind zehn Prozent der Bevölkerung homosexuell, also sollten auch circa zehn Prozent der Figuren, die wir in Filmen und Serien zu sehen bekommen, homosexuell sein – und zwar auf eine Art und Weise, die sich stets weiterentwickelt und nicht stagniert.
Natürlich gab es eine Zeit, in der Queerness in Filmen und Serien beinahe schon überrepräsentiert war. Aber das ist eine logische Entwicklung: Man beschäftigt sich intensiv mit einem Thema, weil Nachholbedarf vorhanden ist, und dann kommt es zu einem Überangebot. Aber dieses Angebot, diese Beschäftigung mit einem Thema, pendelt sich nach und nach wieder ein.
Was wir uns bewusst machen müssen: Alles, was sichtbar ist, ist Teil der Realität und akzeptiert man als Teil der Realität. Zudem baut Sichtbarkeit Vorurteile und Berührungsängste ab. Genau deshalb ist Sichtbarkeit nicht nur in einem bestimmten Monat, sondern das ganze Jahr hinweg notwendig. Je mehr man etwas sieht, desto weniger stößt man sich daran.
Sehr schön finde ich übrigens, wenn diese Sichtbarkeit beinahe schon beiläufig passiert, also ohne besonderen Fokus oder Thematisierung – auch wenn diese Art von Sichtbarkeit natürlich ebenso wichtig ist –, sondern vielmehr als selbstverständlicher Teil des Gesamten.
Und aus Sicht von queeren Menschen selbst ...
... gibt mediale Sichtbarkeit Mut und kann sogar Leben retten. Man sieht jemanden, der so ist wie ich und realisiert dadurch, dass man nicht alleine ist. Das ist eine enorme seelische Stütze, die nicht unterschätzt werden darf. Ich kann hier aus Erfahrung sprechen, denn mein Coming-Out fiel auch mir nicht allzu leicht.
Haben dir während deines Coming-Outs oder während des Entdeckens deiner Homosexualität Filme und Serien geholfen?
Ja, extrem. Sie haben dazu beigetragen, mich einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen. Es gab hier tatsächlich zwei Serien: zum einen die US-amerikanische Version von "Queer as Folk" und zum anderen die Musical-Serie "Glee".
"Queer as Folk" habe ich vor kurzem erneut geschaut und muss sagen: Sie ist im Allgemeinen sehr gut gealtert und repräsentiert, abgesehen von der Diversität leider, die Community sehr gut wieder.
Bei "Glee" war Kurt Hummel meine große Identitätsfigur, auch deshalb, weil ich ebenso nur mit meinem Vater aufgewachsen bin. Ich war sehr emotional involviert, was Kurt betraf! (lacht)
Szene aus "Nevrland"
Du hast zuvor schon die "woke"-Debatte angeschnitten. Was ist deine Meinung dazu?
Wie gesagt: Widerstand ist anfangs zu erwarten, je sichtbarer etwas oder jemand wird. Abgesehen davon, dass der Begriff "woke" nicht sehr attraktiv ist, empfinde ich es selbst immer dann als problematisch, wenn jemand versucht, die eigene Ideologie, Sichtweise oder Lebensweise anderen aufzudrücken und/ oder vorzuschreiben. Diese penetrante Position, also das Durchsetzen der eigenen Meinung als die einzig wahre, gibt es auf beiden Seiten des Lagers und führt niemals zum Erfolg.
Ich finde es aber gleichzeitig auch wichtig, dem Gegenüber aufzuzeigen, dass es mehr als nur die eigene Vorstellung von Geschlecht und Sexualität, dass es zwischen Binaritäten wie Homo-Hetero oder Mann-Frau viele verschiedene Facetten gibt. Wenn man damit etwas anfangen kann, ist es super, wenn nicht, dann eben nicht. Ich sehe das relativ simpel.
Dieses Überstülpen der eigenen Ideologie und das Gerechtwerden von sogenannter Political Correctness auf Biegen und Brechen wird seit geraumer Zeit vielen Serien und Filmen vorgeworfen. Diesen Produktionen wird nachgesagt, jegliche Art von gesellschaftlichen Minderheiten in die Story zu inkludieren, auch wenn es thematisch eigentlich gar keinen Sinn macht. "And Just Like That" zum Beispiel erweckte manchmal den Anschein, nur Woke-Checkboxen abhaken zu wollen ...
Auch hier ist meine Sichtweise recht einfach: Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Wenn die Produktionsfirmen glauben, diese Art von Stories bringt mehr Kohle, dann sollen sie’s doch bitte machen. Jede:r, der:die damit nix anfangen kann, soll’s halt bitte einfach nicht schauen. Jede:r hat die Freiheit, selbst zu entscheiden.
Prinzipiell aber muss ich sagen: Wenn die Story und die Figuren nur noch ein Abhaken von Checkboxen sind, ohne jegliche Art von Dreidimensionalität, und das Produkt nichts mehr mit Kunst zu tun hat, verstehe ich den Frust des Publikums durchaus.
Schmidinger mit Gerald VDH: Gemeinsam moderieren sie den queeren Podcast "Warme Brüder"
Wie bewertest du die aktuelle Darstellung von Queerness in Filmen und Serien?
Spontan fällt mir die dritte Folge von „The Last of Us“ ein, in der die Backgroundstory über ein schwules Paar 90 Prozent der Handlung einnimmt. Das fand ich sehr beeindruckend, auch und vor allem deshalb, weil die Story sehr sensibel und komplex erzählt wurde. Und darum geht’s doch letzten Endes: dass Figuren und Geschichten sensibel und komplex erzählt werden, egal, welche Sexualität sie haben. Denn genau dann sind sie mehr als bloß Checkboxen und Abziehbilder von bestimmten Ideen.
Ansonsten muss ich zugeben, aktuell kein großer Serien-Schauer zu sehen.
Sondern?
Ich liebe Reality-TV, das ist mein Guilty Pleasure! (lacht) Auch hier sind queere Personen viel stärker als früher vertreten und zwar in all ihren Facetten, jenseits von Klischees.
Zum Beispiel finde ich, dass mit dem Thema Transidentität im RTL-Dschungelcamp, repräsentiert durch Jolina Mennen, extrem respektvoll umgegangen wurde, sowohl seitens der Redaktion als auch der anderen Kandidat:innen. Das fand ich toll. Auch sonst habe ich das Gefühl, dass queere Kandidat:innen nicht – nur – aufgrund ihrer Queerness gecastet werden, wie es früher oft der Fall war. Das ist ein großer Unterschied.
Man darf auch nicht vergessen: Mit Reality-TV erreicht man eine Zielgruppe, die sich ansonsten wohl eher wenig mit solchen Themen beschäftigen würde.
Szene aus "Heartstopper"
Kennst du die Netflix-Serie "Heartstopper", die unerwartet zu einem riesengroßen Erfolg wurde?
Ja, die habe ich tatsächlich geschaut. Sie war sehr heilsam für meinen inneren Jugendlichen! (lacht) Der Erfolg liegt wohl darin begründet, dass die Serie viele korrigierende Erfahrungen zu bieten hat, die viele queere Menschen in ihrer Jugendzeit nicht machen konnten. Zum Beispiel: das erste Mal Händchenhalten, das erste Mal küssen, etc.
"Heartstopper" unterscheidet sich rapide von "Queer als Folk": Anstatt Sex und Drogen gibt es hier die erste naiv-jugendliche Liebe, die ganz großen Gefühle inklusive. "Heartstopper" ist sehr unschuldig, fast schon märchenhaft. Und genau dadurch befriedigt die Serie wohl auch das Bedürfnis von vielen schwulen Männern, denen diese jugendlichen Erfahrungen im Gegensatz zu heterosexuellen Männern fehlt.
Zurück zur "Woke"-Debatte: Dazu gehört auch die Frage, ob nur noch queere Schauspieler:innen queere Rollen spielen dürfen. Wie siehst du das?
Dazu habe ich eine ganz klare Meinung: Nein, es dürfen nicht nur queere Schauspieler:innen queere Figuren spielen! Bei Transfiguren würde ich aber sensibler mit dieser Frage umgehen, weil es hier um eine bestimmte Körperlichkeit geht und vielleicht auch um bestimmte Erfahrungen.
Prinzipiell sollte der:die beste Darsteller:in die Rolle auch bekommen. Punkt. Sollte es aber zum Beispiel der Fall sein, dass am Ende die Entscheidung zwischen zwei Schauspieler:innen gefällt werden muss, die beide gleich talentiert sind, aber einer ist schwul und der andere nicht, dann würde ich für die schwule Rolle den schwulen Schauspieler vorziehen.
Hier geht’s mir um Chancengleichheit, denn schwule oder lesbische Darsteller:innen bekommen nach wie vor weniger Rollenangebote als heterosexuelle Schauspieler:innen. Und ja, eine gewisse gelebte Erfahrung ist für die Rolle sicherlich auch hilfreich. Nicht notwendig, aber hilfreich.
Zurück nach Österreich. Das bekannteste heimische queere Filmfestival "identities" gibt es seit 2017 leider nicht mehr. Zurzeit findet jährlich das "Queer Film Festival" im Votiv Kino statt. Sind queere Filmfestivals überhaupt noch zeitgemäß oder grenzt man sich dadurch zu sehr ab?
Prinzipiell ist jedes zusätzliche Filmfestival toll! Queere Filmfestivals sind aber nach wie vor wichtig, denn es braucht diese geschützten Räume zur Selbstreflektion. Jede Art von Festival ist eine Bereicherung, da ist Österreich keine Ausnahme.
Die "identities"-Organisatorin Barbara Reumüller erzählte mir vor vielen Jahren in einem Interview, dass Lesben offenere Filmzuseherinnen seien als Schwule. Heißt: Lesben schauen sich auch Filme mit schwulem Thema an, Schwule aber weniger Filme mit lesbischen Thema. Kannst du das bestätigen?
Absolut! Das konnte ich selbst bei unzähligen Vorführungen beobachten. Wieso das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht sind lesbische Frauen kulturell offener als Schwule, die sich vor allem nur mit sich selbst beschäftigen wollen? (lacht) Aber ich kann dir den Grund ehrlich nicht sagen.
Okay, dann anders gefragt: Würdest du einen Film über lesbische Frauen machen?
Wohl eher nicht. Nicht aus mangelndem Interesse, sondern ich würde es mir nicht zutrauen. Ich glaube, da gibt es andere, die dafür besser geeignet sind. Das gilt aber auch für andere Arten von Geschichten: Ein Horrorfilm beispielsweise würde mir mehr liegen als ein Western.
Wärst du als Regisseur und Autor auch an nicht-queeren Filmen interessiert?
Absolut. Klar.
Welche Projekte hast du gerade in der Pipeline?
Ich habe vor kurzem drei Drehbücher fertig geschrieben, die alle in einem unterschiedlichen Genre angesiedelt sind: Horror, Komödie und Science-Fiction. Zwei dieser Geschichten haben übrigens nur sehr wenig mit Queerness zu tun, auch wenn sie vereinzelt queere Elemente beinhalten. Aber das wird bei mir wohl immer so sein.
Welche dieser Drehbücher dann tatsächlich umgesetzt wird, kann ich natürlich derzeit noch nicht sagen.
Wir drücken die Daumen! Letzte Frage: Welche queere Serie oder queeren Film empfiehlst du unseren Leser:innen?
"Moonlight" von Barry Jenkins mit Mahershala Ali in der Hauptrolle ist ein verdammt guter Film, den ich jedem:r nur wärmstens empfehlen kann.
Im Serienbereich schaue ich gerade "Queer Eye" auf Netflix. Die Reality-Serie ist nicht nur sehr divers, sondern auch sehr berührend. Ein Fußbad für die Seele! Bei jeder Folge drückt’s mir ein Tränchen raus ...